Am Anfang war die Idee. Die Idee, eine möglichst schöne und lange Strecke durch das Weinviertel zurücklegen – allerdings kein Rundkurs, sondern von einer im Optimalfall weit entfernten Ortschaft zurück ins heimatliche Wolkersdorf. Die erste Umsetzung dieser Idee erfolgte in der Osterwoche 2016, noch einige Monate bevor dieser Verein überhaupt gegründet wurde. Damals hieß der Startort Mistelbach, und gegen kräftigen Wind kämpften wir uns die rund 30 Kilometer über Feldwege in Richtung Süden bis zum Wolkersdorfer Schloss. Im Folgejahr liefen wir über eine ähnliche Distanz von Gaiselberg, jenem Ort, der den berühmten Guglhupfberg beheimatet, nach Wolkersdorf.
Schon damals reiften die Pläne für einen dritten Langlauf, der die bisherigen in puncto Distanz in den Schatten stellen sollte. Die Kriterien für den Startort waren einfach: Er sollte mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht erreichbar sein, und die Strecke zwischen Startort und Wolkersdorf landschaftlich etwas zu bieten haben. So fiel unsere Wahl auf Hollabrunn, die Metropole des westlichen Weinviertels, das Projekt betitelten wir sinngemäß mit „Hollabrunner Gewaltlauf“. Eine maßgebliche Hilfe bei der Routenplanung war die Möglichkeit, eine Strecke daheim vor dem Computer zu erstellen, und diese dann auf die Laufuhr zu übertragen, die uns während des Laufs den Weg weisen sollte. Auf diese Weise konnten wir, ohne auf eine Karte angewiesen zu sein, auf kleinen Feld- und Waldwegen nach Wolkersdorf traben. Wie klein, würden wir bald nach dem Start merken.
Eine vierköpfige Abordnung des LC Wolkersdorf begab sich schließlich am Pfingstsonntag mit den Beförderungsmitteln der Österreichischen Bundesbahnen zum Startpunkt, dem Hollabrunner Bahnhof. Um etwa 15:50 Uhr fiel der imaginäre Startschuss, und am Hollabrunner Hauptplatz vorbei begannen wir in gemächlichem Tempo Richtung Osten zu laufen. Die äußeren Bedingungen erwiesen sich als ideal; bei knapp über 20°C, Sonnenschein und leichtem Nordostwind vergingen die ersten Kilometer wie im Flug. Bald erreichten wir den Ernstbrunner Wald, laut einem berühmten enzyklopädischen Online-Nachschlagewerk der größte geschlossene Eichenmischwald Mitteleuropas. Die nachfolgenden 18 Kilometer sollten wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen: Geschickt gelotst von unseren elektronischen Laufhelfern waren wir auf hügeligen Waldwegen unterwegs, anderen Menschen begegneten wir nicht.
Doch dann, als die Wege immer zugewachsener wurden, und wir dort, wo unser Weg weitergehen sollte, inmitten des Waldes auf einmal vor einem Zaun standen, kam vorübergehend etwas Nervosität auf. Bei einer geplanten Streckenlänge von über 50 Kilometern fällt jeder Umweg doppelt schwer, doch an diesem Punkt mussten wir wohl oder übel kurz umdrehen und uns, diesmal auf uns gestellt, einen Weg bahnen. Glücklicherweise fanden wir bald einen anderen Weg, der aber wieder so abenteuerlich zugewachsen war, dass wir einigermaßen froh waren, nach ein paar hundert Metern und der Überwindung eines verrosteten Gatters plötzlich auf einer asphaltierten Straße zu stehen – wohlgemerkt immer noch inmitten des Ernstbrunner Waldes.
Wir fanden wieder zurück auf unsere geplante Route, und vorbei am herrschaftlichen Jagdschloss Glaswein erreichten wir den mit rund 370 Metern höchsten Punkt der Strecke.
Es wurde emotional: Nach etwa zwei Stunden mussten wir Abschied nehmen vom Wald, und fanden uns in einer typischen landwirtschaftlich geprägten Weinviertler Hügellandschaft wieder.
Nach Merkersdorf, der ersten Ortschaft seit langem, erreichten wir Maisbirbaum, wo Alexander bereits auf uns wartete und mit seiner mitgebrachten Verpflegung zahlreiche Sympathiepunkte sammeln konnte.
Er schloss sich uns an, sodass wir ab der Streckenhälfte nun zu fünft unterwegs waren. Moralisch und kulinarisch gestärkt bewegten wir uns im Abendlicht auf Feldwegen vorbei an Ortschaften mit klingenden Namen: Lachsfeld, Simonsfeld und Naglern.
Bei Wetzleinsdorf, dem ersten Ort seit Maisbirbaum, an dem wir nicht nur vorbei-, sondern durchliefen, ein Hauch von Heimat: Wir überquerten den Rußbach, nicht weit von seiner Quelle entfernt. Nach Weinsteig näherten wir uns der Marathonmarke, die wir in Würnitz kurz vor einer Trinkpause überschritten. Etwa 10 Kilometer lagen noch vor uns, dazu ein knackiger Anstieg, und dies bereits in der Dunkelheit. An dieser Stelle musste sich Christoph leider von uns verabschieden, er ließ Vernunft walten und sich in Würnitz abholen. Wieder auf vier Köpfe dezimiert gingen wir die letzten Kilometer an – oder wollten es zumindest. Im Lichte unserer Stirnlampen konnten wir beim Würnitzer Waldteich den anvisierten Weg zunächst nicht finden, der zweite kleine Umweg des Tages war notwendig. Nach wenigen Minuten waren wir wieder auf Kurs und liefen durch den nächtlichen Kreuttaler Wald. Ganz alleine waren wir nicht; im Gebüsch rundherum raschelte es hin und wieder, und einmal zeigte sich auch der Grund: Etwa 20 Meter vor uns liefen zwei Wildschweine quer über den Weg, in einem deutlich höheren Tempo als wir. Als wir den Wald verließen und am Mühlradsberg erstmals die Lichter Wolkersdorfs vor uns auftauchten, waren unsere Beine zwar schwer wie selten zuvor (außer bei unserem Langstreckenexperten Stefan), aber mit dem Ziel vor Augen kam ein Aufhören nun nicht mehr infrage. Vorbei an Ulrichskirchen liefen wir in Wolkersdorf ein und erreichten beim Schloss nach knapp 53 Kilometern, 750 Höhenmetern und sechseinhalb Stunden auf den Beinen unser anvisiertes Ziel.
Relive ‚Hollabrunner Gewaltlauf‘