Oklahoma, irgendwo in den endlosen, Marchfeld-artigen Weiten zwischen New York und Los Angeles gelegen, zählt nicht zu den großen us-amerikanischen Tourismusmagneten. Nach mehreren Monaten, die ich seit Anfang Februar hier studienbedingt verbringen durfte, mag ich anmerken: Zurecht. Doch trotzdem ist mir dieser Bundesstaat, der weit mehr als das Klischee der waffenverrückten ultrakonservativen Pickup-Truckfahrer zu bieten hat, in den letzten Monaten infolge einer Abwandlung des Stockholmsyndroms ans Herz gewachsen. Die Gründe? Die Freundlichkeit der Menschen ist nicht nur ein lokaler Mythos, sondern im zwischenmenschlichen Austausch und der Hilfsbereitschaft gegenüber Wildfremden spürbar – nicht nur oberflächlich oder in der Erwartung eines besonders hohen Trinkgelds. Die ebenso legendären „Oklahoma sunsets“ bringen die erstaunlichsten Farbenspiele auf den Horizont und kompensieren für sporadische Besuche im Tornadobunker. Und nicht zuletzt durch zahlreiche Laufkilometer am Unicampus, durch gigantische Suburbs und über schnurgerade Landstraßen konnte ich mich nach kurzer Zeit mit der Umgebung anfreunden.
Wie auch schon bei anderer Gelegenheit nutzte ich diesen Auslandsaufenthalt für die Teilnahme an einem lokalen Laufbewerb. Wer braucht schon die großen amerikanischen Marathonveranstaltungen in New York, Boston oder Chicago, wenn es in unmittelbarer Nähe den Oklahoma City Memorial Marathon gibt. Der Lauf blickt auf eine kurze Geschichte zurück, wurde 2001 erstmals ausgetragen. Oklahoma City, die in zahlreiche Suburbs, Industriegebiete, Einkaufszentren und Interstate-Kreuzungen ausufernde Hauptstadt des Bundesstaates, beherbergt beinahe 700.000 Einwohner und Einwohnerinnen, die Metropolregion etwa 1,4 Millionen, und zieht alleine deshalb schon alljährlich Ende April tausende Läufer und Läuferinnen an – heuer sogar fast 19.000. Der „Memorial“-Aspekt des Laufes bezieht sich auf den in der Region nach wie vor sehr präsenten Anschlag auf ein Regierungsgebäude im Stadtzentrum im Jahr 1995, bei dem 168 Menschen ums Leben kamen – es sollte damals für sechs Jahre der tödlichste Terroranschlag in der Geschichte der USA bleiben. Die Erlöse aus den Startgeldeinnahmen fließen an das Oklahoma City National Memorial und Museum; nach Eigenangaben essentielle Mittel für den Erhalt der Gedächtnisstätte, die – etwas absurd – keine staatlichen Mittel erhält.
Abgesehen von dem ehrwürdigen Zweck ist es eine Laufgroßveranstaltung wie anderswo auch: Die Startnummernabholung erfolgte an den beiden Tagen vor dem Lauf in einer großen Messehalle, wo Sponsoren und lokale Sportartikelhändler an der Verbesserung von Bekanntheit und Umsatz arbeiteten. An einer Wand der Messehalle wurden Fotos und Zeiten der bisherigen Marathonsieger und -siegerinnen ausgestellt. Zu meiner großen Überraschung stellte ich dort fest, dass 2007 ein Österreicher den Marathon gewinnen konnte, einer von nur zwei nicht-amerikanischen Siegern in der Geschichte des Wettbewerbs. Unkontrollierbarer Stolz angesichts des erfolgreichen Landsmannes erfüllte mich. Ich würde freilich keine Chance haben, hier verewigt zu werden. Alleine schon aus dem banalen Grund, weil ich für den Halbmarathon, und nicht die volle Variante gemeldet war.
Am Wettkampftag Sonntag, den 30. April, wurden zahlreiche Läufer in Läuferinnen in Oklahoma sehr früh geweckt. Der Startschuss war für 06:30 Uhr Ortszeit angesetzt, mit Frühstück und Anreise bedeutete das beispielsweise für mich Tagwache um 04:07 Uhr. Grund für den frühen Start ist neben dem unberechenbaren, aber tendenziell am Nachmittag schlechteren Wetter in Oklahoma auch die Vermeidung von übermäßig langen Straßensperren am Tag des Herren, sodass der Gottesdienst rechtzeitig mit dem Auto erreicht werden kann. Apropos Wetter: Das sollte an diesem Tag mit sehr angenehmen 9°C – Fans imperialer Einheiten bezeichnen das als 48°F – und für die Gegend und Jahreszeit ungewöhnlich schwachem Wind perfekte Laufbedingungen bieten. Eine gewisse Nervosität, die mich nicht erst beim Aufwärmen nahe des Starts erfüllte, kann ich auch im Nachhinein nicht leugnen – hatte ich in den Wochen und Monaten zuvor doch viele Stunden in und rund um meinen temporären Heimatort Norman investiert, um bei diesem Halbmarathon eine persönliche Bestleistung aufstellen zu können. Eine Viertelstunde vor Start reihte ich mich in der Straße direkt neben dem Ort des damaligen Anschlags ins Starterfeld ein, wo eine entspannte, fast freundschaftliche Stimmung ohne Gedränge herrschte. Nach 168 Schweigesekunden wurde die us-amerikanische Nationalhymne im landestypischen Pathos intoniert, und alsbald der Countdown zum Start heruntergezählt. Go!
Die ersten zwei Kilometer führten in flottem Tempo wellig, aber in Summe leicht bergab Richtung Süden und Osten, danach mit zahlreichen Kurven ällmählich nordwärts Richtung State Capitol. Einzelne kurze Anstiege gaben einen Vorgeschmack auf den weiteren Streckenverlauf, der immer wieder diese leichten Rhythmusbrecher inkludierte. Zum Glück fühlte ich mich an diesem Punkt ausgezeichnet, konnte mich rasch auf meine geplante Pace einpendeln und war noch dazu in einer Gruppe mit anderen Läufern, in der wir uns gegenseitig mit der Führungsarbeit abwechselten. Nach gut 6 km erreichten wir das State Capitol – übrigens das einzige der USA, auf dessen Areal sich eine Erdölförderanlage befindet. Ein passendes Sinnbild für diesen Bundesstaat. Auf den folgenden Kilometern versuchte ich die Pace vorsichtig zu steigern, löste mich aus der Gruppe und schloss der Reihe nach zu anderen, verstreuten Läufern auf. Ich näherte mich einem der Höhepunkte entlang der Laufstrecke, dem berüchtigten „Gorilla Hill“. Vor Jahren einer Nachbarschaftsinitiative entsprungen, feiern dort an einem der Hügel hunderte Leute stundenlang alle vorbeikommenden Läufer und Läuferinnen. Namensgebend ist eine mehrere Meter große, aufblasbare Gorillafigur, die am Streckenrand platziert ist. Darunter geben Freiwillige in Bananen- und Affenkostümen Wasser, Bier und Shots aus. Die alkoholhältigen Getränke erst, wenn die ersten vorbeikommenden Läufer eine Gehpause einlegen. Etwas eigenwillig, aber liebenswürdig – und die großartige Stimmung war ansteckend. Nicht nur an diesem einen Punkt, auch an sehr vielen anderen Stellen wurde trotz der frühen Stunde zugejubelt und eine Party nach der anderen gefeiert.
Kurz nach Gorilla Hill teilten sich die Strecken von Halbmarathon und Marathon, und als glücklicher Halbmarathonteilnehmer konnte ich langsam den Rückweg Richtung Ziel aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren etwas über 12 km gelaufen, ich spürte erste Anzeichen von drohender Erschöpfung und war nun ohne Gruppe auf mich allein gestellt. Nicht ideal, lag doch ein Streckenabschnitt unmittelbar vor mir, vor dem ich gewarnt worden war: Classen Boulevard, eine mehrere Kilometer lange, schnurgerade „false flat“, die linke Wienzeile des OKC Marathons. Tatsächlich bemerkte ich den leichten zusätzlichen Widerstand, der von nicht einmal 1% Steigung ausging. Spätestens nach 15 Kilometern begann ich jeden nächsten Kilometer herbeizusehnen, und was zuvor noch wie im Flug verging, zog sich allmählich in die Länge. Wie ich später feststellen sollte, konnte ich das Tempo dennoch halbwegs halten, und befand mich auf recht gut abgesicherter vierter Gesamtposition. Ich hatte auch Sichtkontakt zum Drittplatzierten, merkte dass der Abstand leicht schrumpfte, konnte aber nicht mehr zulegen, um die sicher zwei- oder dreihundert Meter große Lücke entscheidend zu verkleinern. Nach 17 km bog der Kurs endlich vom Classen Boulevard ab, und führte fortan leicht bergab in Richtung Ziel – eine höchst willkommene Abwechslung. Zu diesem Zeitpunkt war ich längst auf Autopilot unterwegs, versuchte alles herauszuholen, und konnte nicht zuletzt gravitationsbedingt noch leicht an Geschwindigkeit zulegen. Ich hatte längst das beruhigende Gefühl, dass eine persönliche Bestleistung beinahe unabwendbar war, und freute mich schließlich auf der Zielgeraden zu sehen, dass es sich um eine Zeit rund um 01:12 handeln würde – amtlich wurden es 01:12:01, eine Verbesserung gegenüber meiner früheren Zeit um fast zwei Minuten.
Im Zielbereich war es noch ausgesprochen ruhig, die Verpflegungsstände reich befüllt mit all jenen zuckerhältigen Lebensmitteln, die man sich in so einer Lebenslage nur wünschen kann. Und weil die Freundlichkeit der Okies keine Legende ist, wurde ich gleich im Zielbereich wieder in äußerst nette Unterhaltungen verwickelt und mehrfach darauf angesprochen, wie es mich denn als Österreicher hierher nach Oklahoma verschlagen hätte. Nach Konsumation des Freibiers einer lokalen Brauerei konnte der Tag wenig später richtig starten. Es war 08 Uhr eines Sonntagmorgens in Oklahoma City.